Deutschlands nördlichster Lauf ist ein Unikum: Organisation vom alten Schlag, Schrot und Korn. Onlineanmeldung Fehlanzeige, „um den Leuten ohne Internet eine Chance zu geben“. Anmeldebestätigung per Postkarte, mit Stempel für den liebe/-r Sportfreund/-in. Ausweis und Beleg, um die Startnummer am Vortag der Veranstaltung persönlich vor Ort in Empfang zu nehmen. Zusendung zwecklos.
Zielschluss für die 33,333 Kilometer sind vier Stunden, knallhart und ohne Ausnahme. Tradition seit Jahrzehnten. Wer es bis dahin nicht ins Ziel geschafft hat, kommt nicht in die Wertung, kann seinen Leihchip nicht mehr auslösen, könnte eigentlich umdrehen und nach Hause fahren. Außerdem pure Bruttozeitmessung, Pech wenn man weiter hinten startet, immerhin liegt eine championgechippte Kontrollmatte irgendwo auf der Strecke, um fiesen Pfuschern das Handwerk zu legen. Zum Bericht…
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Startgeld auf Großveranstaltungsniveau, 50 Euro, 20 Euro Ummeldegebühr. Just Sylt. Startbeutel oder Funktionsshirt? Fehlanzeige. Im Ziel besteht die Verpflegung aus einer Banane, einem Plättchen Dextro-Energy, warmen Tee und Wasser. Und trotzdem kommen gut 1.400 Läuferinnen und Läufer, seit mehr als 30 Jahren.
Warum? Das Geheimnis liegt in der Sylter Einzigartigkeit und Idylle: Nördlichste Insel, nördlichster Lauf. Die Anforderungen der Strecke sind reizvoll und romantisch, der Termin Anfang März immer für meterologische Unwägbarkeiten gut: Der Veranstalter macht deutlich, dass der Lauf bei ausnahmslos jedem Wetter stattfindet, auch Sturm, Hagel, Eisregen, Schnee. Maximal eine Verkürzung der Strecke räumt man ein, gestartet wird jedoch immer. Und dieser Geist zieht sich durch die ganze Veranstaltung: So viel herbe Ursprünglichkeit und hehrer Sportsgeist, Reduzierung auf das Wesentliche. Ein interessanter Kontrast gegenüber der Zurschaustellung von Reichtum und Schönheit auf Sylt. Nicht, dass Läufer arm und hässlich wären, doch die Sylter Oberbürgermeisterin war bei der Siegerehrung froh, das Image der Insel mal ein bisschen zu variieren. Immer nur Luxus ist ja langweilig. Andererseits sind die gezeigten Leistungen ein Luxus, der ausnahmsweise nicht käuflich ist.
Ohne das Fazit vorwegzunehmen. Viele Läufer waren sich einig, das muss man mitgemacht haben, da der Lauf vielleicht hart, sicher aber herzlich ist: Rosen für die Damen im Ziel, atmosphärische Nudelparty und kultige Siegerehrung, kostenlos warme Baumwoll-Caps und eine sympathische, sportliche Knorrigkeit, Hand in Hand mit freundlicher Aufmerksamkeit. Rundum gelungen.
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Anfahrt und Start
Im Sonderbus ging es von der Jugendherberge Richtung Südspitze. Bedeckter Himmel, immerhin trocken, und eine Landschaft irgendwo zwischen Lanzarote und Mond, gefühlt wie Cape Canaveral, als Lothar trocken und tonlos konstatierte: „Noch 1 Stunde und 20 Minuten bis zum Start„.
Im Bus sank mir das Herz. Aufgrund von intensiven Strandspaziergängen, Inselexkursion und einem Fussballspiel mit den Bürokollegen wenige Tage zuvor, schmerzten meine Beine, Achillessehnen, Füße – ach, alles. Die südtirolerprobten Wanderstiefel von anno dazumal taten ihre letzte Reise, sind sprichwörtlich zu klein geworden, brachten nur noch Blasen und Schmerzen, landeten konsequenterweise im Müll. Anschließend tagelang in wenig stabilisierenden Laufschuhen unterwegs gewesen – auch kein Königsweg! Teufelskrallen-Gel und Arnika-Salbe mussten reichen, neben dem Vertrauen auf die Aktivierung körpereigener Botenstoffe „during endurance“.
Am Start faszinierte erneut die Relavitität der Zeit. Laufevents besitzen die Eigenschaft, mindestens die letzte halbe Stunde vor dem Startschuss auf gefühlt zwanzig Sekunden zusammenzudampfen. Gerade noch fünf Minuten übrig, zack, schon zählt der Countdown rückwärts. Ihr kennt das Phänomen, doch beim Laufen ist´s besonders schlimm. Reicht gerade noch für ein Foto, die Aktivierung des GPS- und HF-Trackings und einen Blick auf den sportlichen Zeremonienmeister, der beim Schwager vorn im orangenen Hubwagen mit der Pistole rumfuchtelt, peng, ist man schon auf der Strecke.
Der Weg führt ziemlich exakt den gleichen Weg zurück, den wir vorher im Bus bei der Anfahrt zurückgelegt haben. Hörnum, Puan Klent, Rantum, Westerland. Theoretisch könnte das eine psychische Herausforderung sein, einfach wegen der vielen Kilometer, langen Geraden, Asphalt- und Dünen-Einöde und natürlich der Überlegung, wie paradox das zumindest unter dem pragmatischen Aspekt gesehen werden könnte, extra ans Ende der Inselwelt zu fahren, um dann wieder zurückzulaufen. Praktisch ist es natürlich vollkommen egal, präfrontaler Cortex im Dauer-Stand-by, und zu interessant ist der dichte Läuferpulk. Zum Beispiel treffe ich zahlreiche Läufer der BSG Delph / Draka aus Remscheid und Wuppertal, neben sportlichen Speerspitzen der Barmenia. So klein ist die Welt. Und wissen tut man das auch erst hinterher, im Bus war´s mir noch bang. Vertrauen wird manchmal belohnt.
Das Feld bleibt dicht beieinander, der schmale Weg lässt kaum Chancen für Überholmanöver. Parallel fahren auf der Straße viele Begleit-PKW mit, bejubeln, fotografieren und feuern an. Polizei patrouilliert, regelt den (tröpfelnden) Verkehr. Zwei Szenen bleiben mir besonders im Kopf, ein neongelb bekleideter Polizist auf einer einsamen, langen und geraden Straße, dahinter die endlosen Dünen und ein riesiger Funkmast. Wie aus einer anderen Welt, mindestens aber friesisch-herb und einem Krimi aus Norwegen. Und dann noch der blinde Läufer in Begleitung, der noch dazu viel schneller lief als ich.
Gepriesen seien die Pacemaker
Ich laufe zwar mit erprobter GPS/HF-Technik, aber ohne Überprüfung der Zwischenzeiten oder Pace, sprich Durchschnittstempo pro Kilometer. Die flachbrüstige Garmin-App kann das leider nicht, und da muss man sich entscheiden: RunKeeper und Zeitansagen, oder Garmin und Herzfrequenzmessung. Letzteres war mir über die lange Distanz wichtiger, der Rest wird sich schon finden.
Optimal wäre ein gleichbleibendes Tempo über die gesamte Strecke, was für lange Läufe meist bedeutet, die Reserven am Anfang zu schonen, um sie später abrufen zu können. Ausgesprochen angenehm und praktisch war wieder, Läufer herausgehört zu haben, die mit 06:15er Pace (sprich 06:15 Minuten pro Kilometer) ungefähr das überlegte Tempo liefen. Ideal, um dranzubleiben, und nicht zu „überpacen“, den Lauf also zu schnell anzugehen. Gerade auf den ersten Kilometern ist diese Versuchung groß, teuer bezahlt am Ende mit überproportionaler Erschöpfung, Leistungseinbruch und Zeitverlust.
Diese Einbremsung bis Kilometer 21 hat sich offensichtlich gelohnt. Klar beginnt man, seine Beine zu spüren. Und ich war auch froh über die eingepackten Powerbar-Gels, weil es an der Strecke bis auf Banane und Schokoküsse nichts gab, noch dazu nur sehr vereinzelt. Doch Kraft und Lust waren ungebrochen, und zum ersten Mal konnte ich kontinuierlich andere Läufer überholen. Gerade kleine Anstiege oder lange Geraden lohnten sich, Training im Bergischen Land sei Dank.
Herren des Ringens
Ab Kilometer 22 passierten wir Wennigstedt und Kampen, mit viel Motivation durch Menschen am Streckenrand. Trotz Kopfhörern und Deichkind im Ohr wurde ich angefeuert, wenn ich signalisierte, den Jubel wahrzunehmen und zu schätzen. Ein super Schub, der perfekt in die weiteren Kilometer der Dünenlandschaft vor List trug, vorbei an der Vogelkoje, hinein ins Klappholttal. Herren des Ringens. Und ich hatte noch immer Kraft: Keine Gehpausen, stattdessen verschärftes Tempo. Die Pacemaker habe ich hinter mir gelassen, und legte es jetzt darauf an, jeweils meinen Vordermann zu überholen. Natürlich nicht mit Zwischensprints, sondern einem langsamen Anzug des Tempos. Die Strategie ging auf, gefühlt rund 50 Plätze konnte ich so bis zum Ziel gutmachen.
33,333 Kilometern sind eine dankbare Distanz für Marathonläufer. Meine bisherigen Erfahrungen ab Kilometer 28 waren eher schlecht, Stichwort Mann mit dem Hammer. Beim Syltlauf passte bis zum Ziel konditionell einfach alles, und es IST ein physischer und psychischer Unterschied, ob ab Kilometer 30 noch nur drei oder doch noch zwölf Kilometer vor einem liegen. Frischer Gegenwind aus Nord-West mit Windstärke 4 bis 6, niedrige Temperatur von gerade einmal 6 Grad (gefühlt 1°) und eine Strecke, die (leider) weitestgehend über Beton statt Sand und Gelände führt: Im Ergebnis neutrale Rahmenbedingungen, begünstigt durch ein flaches Höhenprofil von gerade einmal 25 Metern +/-. Wo Norddeutsche vor knackige Anstiegen warnen, macht der mittelgebirgserprobte Rheinländer lässig die Bergziege.
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Sie haben ihr Ziel erreicht
Ausgesprochen freundliche und nette Begrüßung im Ziel: Auf den letzten hundert(en) Metern wird konsequent nochmal alles gegeben. Kräftiger, frontaler Gegenwind im Zielkanal macht die Sache nicht leichter. Hinter der letzten Zeitmessmatte schwankt man dann auch schon mal ein bisschen. Sofort fragen freundliche und aufmerksame Helfer, ob alles in Ordnung sei. Ja. Und andere, freundliche und aufmerksame Helfer geben für Syltlauf-Erstsemester eine Einführung, wo sich was findet. Verpflegung, Medaillen, Duschen, Massagen, Gepäck- und Pendelbusse. Klasse organisiert, die lange Erfahrung des Veranstalters und ihr Herzblut für die Sache wird spürbar.
Mit Altersklassenplatz 29, Gesamtplatz 329 und einer Zielzeit von netto 03:15:30 Stunden bin ich mehr als zufrieden. 03:33 Stunden hatte ich angesichts der 33.333 Meter angepeilt, ohne aufgrund der vorherigen Form und Zustände dran zu glauben. Gefühlt waren im Ziel auch noch Reserven, so dass der Blick beim Marathon dieses Jahr gen 04:15 oder gar 04:00 Stunden gehen kann, wenn die Vorbereitung, Strecke und Tagesform stimmt.
Bei allem Stolz über das Ergebnis: Erfolg und Anstrengung ist etwas sehr Subjektives. So waren die 50-, 60- und 70-jährigen Sieger ihrer Altersklassen allesamt schneller. Andererseits verdient und erhält in Sylt auch der letzte Zieleinläufer Anerkennung, weil er antritt und kämpft. Ein auf vier Stunden limitierter Zielschluss ist da nur eine besondere Motivation und Herausforderung, schmälert jedoch nicht den Respekt, wenn sich alle bei der Siegerehrung im lauschigen Sylter Kongresszentrum wiedertreffen, und die berühmten Sylter Raketen den Saal beben lassen.
Der Lauf fühlte sich körperlich „wie gedopt“ an. Glücklicherweise habe ich da keine echten Vergleichswerte, doch bei fast allen Überholmanövern ein schlechtes Gewissen: Es wurde mir selber etwas unangenehm, weil Gehpausen ab Kilometer 28 bisher immer obligat waren. So beschlich mich zum schlechten Gewissen noch die Furcht vor einem Einbruch. Doch Pustekuchen, mit einer Pace Richtung 05:00 Minuten war das Tempo auch auf den letzten Kilometern kontinuierlich steigerbar. Und das bei einem fragmentierten Training in den letzten Wochen, was gerade mal ausreichend bei den langen Läufen gewesen sein dürfte, 20 Kilometer Maximum. Laufen als Lust, nicht Last. Ich weiss es doch auch nicht.
Läufer wissen, wie viele erzählenswerte Randnotizen ein Lauf birgt. Ob es die Freude über die Ansage zum Einflug im Zielkanal ist, Lohn für sichtliche Anstrengung auf den letzten zweihundert Metern. Oder Rosen für die feminien Finisher, Fischbrötchen von Gosch direkt nach dem Lauf, nackte Menschen in kalten Turnhallen, oberste Priorität trockene und warme Kleidung. Für alle Eindrücke würde hier der Platz nicht reichen, bis vielleicht auf…
Freude und Frieren in der Sylter Welle
Am Vorabend des Laufs gönnte ich mir vier Stunden Schwimmbad und Sauna, nicht ohne Bewunderung für das Preis-/Leistungsverhältnis und die Freundlichkeit des Personals. So ein Wellnesstempel könnte man bei uns in der Region Bergisches Land lange suchen (die Mediterana in Bergisch Gladbach ausgenommen, doch da kosten vier Stunden Bad und Sauna samstags 29,50 Euro, gut das doppelte wie auf der Insel).
Kurzum: Die Sylter Welle ist empfehlenswert. Klangschalen-Aufguss, Salzpeelings, Wellenbad, Rutschen, Wärme – alles da. Einmaliges Panorama im Frischluftbereich der Sauna, direkt auf der Promenade und mit Blick aufs Meer (und vice versa – Freunde der Freikörperkultur sollten trotz des Dunkel etwas aufpassen, um nicht zu sehr die abendlichen Spaziergänger zu erheitern). In der Dunkelheit ein toller Kontrast, schimmernde Pools, dampfende Körper, funkelnde Sterne, kalter Wind, und das kontinuierliche Wellenrauschen.
Dumm nur, vor lauter Entspannung am Ende noch lediglich lumpige fünf Minuten Zeit zum Umziehen zu haben, vor lauter Hektik das Föhnen zu vergessen, und draußen bei 3° mit nassen Haaren zu bibbern. Schal zur Burka umfunktioniert, und mit etwas Sekt am Strand zur Herberge zurückmarschiert, Nordsee und Newcastle in England vor sich, Deutschland und Dänemark im Rücken. Ungeplant und ungesund, doch leider geil. So viel zur Freude, jetzt zum Frieren:
Nach dem Lauf am Sonntag lud der Veranstalter noch zum kostenfreien (bzw. in die Startgebühr inkludierten) Besuch in die Sylter Welle ein. Was vor dem Lauf wahre Wellness war, verwandelte sich in ein verfrorenes Fiasko: Wo keine Kohlenhydrate sind, kann auch nichts mehr verbrannt werden. Sauna wäre eine (zuzahlungspflichtige und thermisch sinnvolle) Alternative gewesen, doch angesichts des Besuchs am Vortag und des ohnehin belasteten Körpers keine echte Option. Idee des Langstreckenlaufs ist, den Anteil der Energiegewinnung zugunsten vom energiereichen Fett zu steigern. Klappt wohl bei mir noch nicht so richtig, immerhin hatte der Rest der einfallenden, auffallend sportlichen Meute im Bad seinen Spaß. Obgleich wohl nicht jeder richtig vorbereitet war: Statt Badeshorts war so manche Lauf- oder Unterhose zu entdecken. Guten Appetit!
Fazit
Ein uriger, idyllischer, harter und herzlicher Lauf mit ganz eigenem Charme, ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Tipp für sportliche Nordsee- oder Sylt-Fans, die früh genug den schon beschwerlichen Weg der Anmeldung auf sich nehmen. Aufgrund von Distanz und Zielschluss nichts für Einsteiger, eher „erfahrene Volksläufer“ (auch laut TSV Tinnum ´66). Ideale Distanz für den Einbezug ins Marathontraining.
Eine Kurzreise mit vielen schönen Erfahrungen und Eindrücken. Jugendherberge und Sylt getestet und gut gefunden. Interessante Menschen getroffen, Kontakte geknüpft, Erfahrungen gesammelt. Nähe schafft Nähe. Den Backpacker-Skill sollte ich allerdings noch etwas aufleveln, zu viel Gepäck vermeiden und stets an alle nötigen Netzteile denken.
Gerne wieder, wobei es mich in näherer Zukunft eher in den Süden zieht. Nach Egmond und Sylt ist die Sehnsucht nach flachen Küstenlandschaften und nordischer Herbe erstmal gedeckt. Bajuwarische Zünftigkeit, kluftige Bergwelt und kaltes Bier stehen oppositiv auf der Wunschliste, wofür sich sicher Lauf und Gelegenheit findet.
P. S.Gerade kommt die Antwort vom Fotoservice. Die die Läufer beim Lauf fotografiert haben. Ja, sie bieten nur den Zusand aller Bilder per CD an. Nein, nicht gezippt zum Download. Auf dem Dorf haben sie schliesslich nur DSL mit 2 Mbit/s.