Die Seele des Volkslaufs

Der Buddhismus lehrt die Befreiung von selbstzerstörerischer Askese und ungezügeltem Hedonismus zugunsten eines mittleren Weges. Der Volkslauf gibt eine Vorschau darauf. Über einen Zieleinlauf Hand in Hand ist hier niemand böse. Alle sind Sieger, nur manche etwas eher. Und natürlich hat Laufen selbst wirklich nichts mit Religion zutun. Kann aber.

Der Unterschied

Von einem vielzitierten Leiter des Kulturteils der Süddeutschen Zeitung ist die Aussage überliefert, seine Literaturkritiker sollten lieber über Freibäder als über Bücher schreiben. Das Ergebnis sei viel interessanter. Das Blatt blieb damals den Beweis schuldig was da nun stimmt. Mit den Mitteln der Kritik könnte man klären, was der Herr im Vagen beließ; worin sich nämlich Freibäder von anderen Schwimmbädern, speziell den unfreien Hallenbädern, unterscheiden. Die gleiche Frage ließe sich zu Volksläufen stellen.

Zwar kennzeichnet beide das rythmische Voreinandersetzen der Beine. Der Beton, der Feldweg, der Schotter und das Gras unter den Füßen. Das mehr oder minder gut geölte Zusammenspiel der Organe und Peripherie unseres Körpers zugunsten der Bereitstellung von genügend Bewegungsenergie. Arbeit, die aufgewendet werden muss, um das Objekt aus der Ruhe in die momentane Bewegung zu versetzen und dort vor allem zu halten. Unerbittlich und blöderweise gleichermaßen abhängig von der Masse und der Geschwindigkeit des bewegten Körpers.

Wo beide also über denselben Grundimpuls verfügen, fühlt sich der Volkslauf zum Freizeitlauf doch grundverschieden an. Das hat mit dem Focus und Durchhaltewillen zutun, daneben auch sehr mit der Streckenbeschaffenheit. Schließlich ist so ein Volkslauf kein unmittelbares Vergnügen im Sinne gesunder Beliebigkeit, hier kommt es zumeist doch schon auf das Ergebnis an. Dafür gibt sich zumeist der  Veranstalter alle Mühe, nur ja auch die Strecke entsprechend zu planen. Pfeilschnell möge sie sein, erreicht durch eine gewisse Geradlinigkeit, Ebene, Freiheit von Hindernissen und schnöden Showstoppern wie etwa Ampeln.

Rituale

Schon alleine deshalb geht ergebnistechnisch beim Volkslauf mehr als im Training, Fachleute wundert das nicht, Laien staunen aber. Mindestens die Hälfte der wunderbaren Euphorie hinter dem Ziel ist wohl dem Staunen geschuldet. Damit qualifziert sich der Volkslauf automatisch zum potentiellen Glücksgarant. So ähnlich wie gerade diese Kinder in der neuen Aldi-Werbung. Ihr Glück hat mit der Sonne und dem Regen zu tun, mit der Zugänglichkeit zur Natur, dem Anderen und dem eigenen Ich. So herrlich unmittelbar.

Zugegeben, die Umittelbarkeit beim Volkslauf ist so eine Sache. Gerade Firmenläufe neigen ja zum ritualisierten Stammesverhalten. Menschliche Loyalität regelt sich über Gruppen. Dort trifft sich wie üblich die Rotte der Läufer, nur diversifiziert durch die teilnehmenden Teams. Soziologen wissen, dass die Loyalität in erster Linie der eigenen Gruppe gilt. So ist das im Beruf, so ist das in der Familie, so ist das beim Fussball. Ein Spezifikum des Volkslauf, in der Freizeit bellt höchstens mal ein Hund, Passanten und Spaziergänger sind keine Gegner.

Den Volkslauf kennzeichnet die bequeme Zugänglichkeit von Getränken. Wobei, Distanzen bis 10 Kilometer sind meist zu kurz, um ordentlich zu tafeln. Mindestens im Ziel gibt es aber Wasser und Iso für alle. Privat unterwegs, muss man gerade bei längeren Distanzen im Sommer ein bisschen vorplanen.

Tragödie und Komödie

Did-not-finish ist natürlich bei beiden Arten von Läufen irgendwie verboten. Höchstens mal eine Gehpause, wenn keiner guckt oder es gar nicht mehr anders geht. Das heisst aber wohl auch, dass es sich wie mit der Komödie und Tragödie verhält, die ebenfalls die Regeln des Theaters gemeinsam haben – und doch ist die eine Gattung zum Weinen und die andere zum Lachen da. Nur fragt sich noch, welcher Lauf die Komödie und welcher der Tragödie gleichkommt, und da gehen die Meinungen weit auseinander.

Spontan könnte man meinen, dass Volksläufe Sommermärchen sind, die nicht enttäuscht werden, und insofern Komödien ähneln. Freizeitläufe hingegen eine ernste Sportausübung und stringente Ergebnisoptimierung in Aussicht stellen, die am inneren Schweinehund und fehlender Tempohärte scheitert, und insofern einen Raum für tragische Konflikte und Scheitern schafft. Schlussletztlich gehören sie eigentlich zusammen, denn ohne Vorbereitung in der Freizeit wird so ein Volkslauf persönlich dann doch vielleicht eher tragisch. Freunde der Filmkunst wissen außerdem schon lange um gelungene Genre-Mischungen. Selten, aber denkbar, etwa der romantische Volkslauf oder der Feierabendlaufschocker.

Der Volkslauf selbst ist auch ein Ausflugsziel. Wie der Wald, die Burg, der Zoo. Was besichtigt man beim Volkslauf? Die anderen Läufer natürlich. Ein idealer Ort für sportliche Voyeure und Exhibitionisten. Da wird geguckt und gestaunt. Was es alles gibt! Die Dicken mit den langen Beinen und die Dünnen mit den kurzen Beinen. Kleine mit dicken Bäuchen, Große ohne jeden Bauch, einfach alles, alle Kombinationen. Menschen ohne Norm, dafür mit viel Anstand. Denn zum Glück sind Läufer meist gnadenlose Pragmaten; wenn die Hose sehr knapp ist, dann hat das thermische, taktile und aerodynamische Gründe. Und wenn man das beobachtet, dann nur unter dem Aspekt, die Joggingpeitsche das nächste Mal vielleicht auch auf Tights zu tauschen. So schafft es der beim Fussball immer fitte Azubi vielleicht mal vor den alten Mann aus dem Marketing.

Wenn man sich ausgestaunt und ausgeguckt hat, dann wird aneinandergekuschelt. Einer Schafherde gleich zwängt man sich in die Gatter der Startaufstellung. Es gibt kaum einen anderen öffentlichen Ort, an dem so viele Menschen eng gedrängelt und knapp bekleidet beieinanderstehen. Steam wie AC/DC, voll wie Huiguan Bay, laut wie Maho Beach. Übertroffen nur wenig später noch vom durchaus intimen rythmischen Schnaufen und Stöhnen auf der Strecke. Nicht zu reden von den erhitzten, entspannten Leibern im Ziel. Auch wenn sich da Parallelen aufdrängen – diese Umstände sind doch nur der physischen Anstrengung geschuldet. Trotzdem bleibt es bei der zumeist sehr positiv konnotierten Kulisse für Auge und Ohr, in der wir uns naturgemäß wohl fühlen. Selbstverständlich gibt es auch Dinge für die Sinne, die sind nicht schön. Aber mal ehrlich, wer legt im Eifer des Gefechts schon die Ästhetik auf die Goldwaage?

Und über allem menschlichen Getöse hinweg vernimmt man noch das Rauschen der Bäume, das Flüstern der Blätter, die Fetzen der Straßengeräusche der Stadt. Wind treibt Wolken über den Himmel, Sonne und Schatten erwärmen und kühlen den Körper. Mal zwickt der Fuß, mal stichtder Bauch. Nie ist man sicher in unseren Breiten vor den Unwägbarkeiten des Laufens.

Im Tunnel

Hinter der Stirn beginnt es zu pochen. Das Atmen wird drängender, je näher man dem offiziellen Ziel kommt. Wo beim Freizeitlauf vielleicht noch Fünfe gerade bleiben, schenkt der erfahrene Volksläufer keine Sekunde her. Einmal im Ziel Erbrechen, wie die Stars, das muss doch möglich sein. Als Amateur hat man da natürlich eine Hemmung, schon alleine weil man das nicht trainiert hat. Außerdem wäre das ja bei einem regionalen Firmenlauf so eine Sache, schon rein stilistisch. Andererseits, Aufmerksamkeit wäre einem sicher, und liegt nicht wahrer Heroismus in der eigenen Überwindung als im absoluten Ergebnis? Doch möchte man das? Alles nur Gedankennahrung, die einem, anders als beim Trainingslauf in der Freizeit, durch den Kopf gehen könnte. Wenn einem überhaupt noch was durch den Kopf geht, und man nicht vollends mit der Aufrechterhaltung von voller Kraft, Herr Kaloi, ausgelastet ist. Und dafür ein Kohlenhydrat nach dem anderen im kardiologischen Glutofen der eigenen Aterien pulmonisiert.

Plötzlich ist man da, plötzlich wird laut durch ein Mikrofon gesprochen, plötzlich ist da eine Stimme, die einen kennt, die irgendwie Bezug nimmt zu den häufig parallel absolvierten Zielsprints. Den tiefen Bariton des moderierenden Sportbundpräsidenten nur halb im Ohr verfeuert gefühlt nur ein kleinerer Teil der Läufer auf den letzten Metern die letzten Reserven. Das kann man ja privat im Training genauso so halten, aber normalerweise ist da keine Stimme, und auch nicht so viele Zuschauer. Das Publikum ist begeistert vom Ungestüm der Läufer, sie erfreuen sich an der Rasanz, sie beleben sich in Beschleunigung. Eindrucksvolle Überlebensenergie, die aus der geringsten Nachlässigkeit des Nächsten einen Nutzen zu ziehen sucht. Das Ziel wie eine Küche, ein Hexenkessel, mit das fleischreichste und fettärmste Teilstück des Vorderviertels des Volkslauf, der Nacken vom Rind. Nur Schmoren sollte man nicht, dafür ist auf den letzten Metern kurzes, scharfes Anbraten angesagt.

Die Seele

Sport, Sonne, Luft und Laufen? Das sind nur vordergründig Zutaten des Volkslaufs. Die Essenz ist, wie in allen menschlichen Schöpfungen, das seelische Erleben. Versuch und Irrtum, Erfolg und Scheitern, vor allem aber die unerschöpfliche Neugier auf die anderen beflügeln die Teilnehmer. Sonst könnte man ja für immer einsam vor sich hin laufen. In der endlosen Ebene der Möglichkeiten einer erschöpften Gemeinsamkeit ertrinkt jeder Wunsch. Was bleibt, ist Euphorie und Erfüllung durch das Einfache. Man hat alles getan. Alles gegeben. Ein Gefühl der
Abgeschlossenheit macht sich breit. Wie gut, dass man trainiert hat. Die Bäume rauschen, der Wind treibt Wolken über den Himmel, mal fröstelt das nasse Shirt, mal brennt die Sonne auf den Nacken. Zum Laufen gehört wie zum Leben, dass man sich seiner Sache nie sicher sein kann.

Der Buddhismus lehrt die Befreiung von selbstzerstörerischer Askese und ungezügeltem Hedonismus zugunsten eines mittleren Weges. Der Volkslauf gibt eine Vorschau darauf. Über einen Zieleinlauf Hand in Hand ist hier niemand böse. Alle sind hier Sieger, nur manche etwas eher. Und natürlich hat Laufen selbst wirklich nichts mit Religion zutun. Kann aber. Im ursprünglichen Sinne versteht sie sich schließlich  als soziales und kulturelles Phänomen, zugunsten einer gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt, und Achtgabe auf Vorzeichen und Vorschriften. Was man dem Training in der Freizeit wie auch dem Kulminationspunkt des Volkslaufes gleichermaßen attestieren könnte.

P. S. Also, Miss Zöpfchen Lauf 2016, was ich eigentlich nur sagen wollte: Es war wieder sehr schön bei euch. Das Team BERGISCHE hatte zusammen mit mehr als 1.000  weiteren Läuferinnen und Läufern seine helle Freude. Danke an Kim Armbrüster, Hartmut Lemmer und das ganze Solinger Trassen-Team.

P. P. S.: Bilder wie immer etwas später hier im Beitrag.